In seiner Entscheidung vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG): „Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht“ eine „abweichende Regelung getroffen hat.“
Streikbruchprämien: Instrumentarium im Arbeitskampf!(?)
Donnerstag, 04. April 2024
Mit dem langwierigen Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL ist der Begriff ‚Streik‘ wieder in aller Munde. Stillstehende Maschinen, eingeschränkte Produktionsabläufe und gestörte Lieferketten können schnell zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Unternehmen haben ein großes Interesse, die Auswirkungen eines Streiks so gering wie möglich zu halten oder zu minimieren. Ein Mittel der Gegenwehr im Arbeitskampf ist die Streikbruchprämie.
Streikbruchprämien sind finanzielle Anreize, die von Arbeitgebern in Aussicht gestellt werden, um die Belegschaft dazu zu bringen, während eines Streiks weiter zu arbeiten oder die Arbeit anderer, streikender Kollegen zu übernehmen. Die Bindung der Mitarbeitenden an das Unternehmen wird verstärkt, der Arbeitskampf verschoben. Die rechtliche Bewertung von Streikbruchprämien wirft einige interessante Fragen auf:
Arbeitskampf - Streik - Streikbruch: Was ist das eigentlich?
Unter Arbeitskampf versteht man jede kollektive Maßnahme von Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite, mit der zielgerichtet Druck auf die Gegenseite ausgeübt werden soll. Arbeitskampfmaßnahmen sind den Tarifparteien - namentlich Gewerkschaften sowie Arbeitgebern und ihren Verbänden - vorbehalten; sie sind Ausdruck der grundrechtlich verankerten Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG.
Der Streik ist die vorherrschende Form einer kollektiven Maßnahme der Gewerkschaften und das populärste Druckmittel der Arbeitnehmerseite im Arbeitskampf. Die Hauptleistungspflicht aus dem Arbeitsvertrag wird nicht oder - beim Bummelstreik - nicht in dem vertraglich vereinbarten Umfang erbracht. Die Nichtbezahlung ist „eingepreist“. Es kommt nicht darauf an, dass die Streikenden ihre Arbeitsverweigerung auch gemeinschaftlich in einer Demonstration o. ä. auf der Straße oder dem Betriebsgelände artikulieren. Die streikführende Gewerkschaft kann Nichtorganisierte nicht binden. Das Streikrecht der Arbeitnehmer ist von der grundrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit gedeckt. Die Frage ist zwar nicht de lege lata ausdrücklich kodifiziert, aber dutzendmal entschieden, zuletzt in mehreren Verfahren des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main und des Hessischen Landesarbeitsgerichts (LAG Hessen). Streik im arbeitsrechtlichen Sinne meint eine temporäre und planmäßige Arbeitsniederlegung einer verhältnismäßig hohen Anzahl von Arbeitnehmern, um ein bestimmtes Ziel im Zusammenhang mit ihren Beschäftigungsverhältnissen zu erreichen - wobei nur tariffähige Ziele zu einem zulässigen Streik führen. In der Regel werden von den Gewerkschaften die Betriebe mit einem hohen Organisationsgrad bestreikt. Die Streikbeteiligung ist dort erfahrungsgemäß höher und die Wahrscheinlichkeit eines Streikbruches geringer.
Streikbruch ist das Gegenteil der dem Streik immanenten Arbeitsniederlegung. Der Arbeitsvertrag wird während eines Streiks wie bisher durchgeführt. Auch hier kommt es nicht auf irgendwelche besonderen Auftritte im Rahmen von Demonstrationen an. Der Begriff ‚Streikbruch‘ lässt die Perspektive erkennen. Die streikenden Arbeitnehmer wünschen sich eine möglichst einheitliche Front. Der Bruch mit diesem Wunsch wird kampfstark apostrophiert. Der vertragstreue Arbeitnehmer rechnet aber möglicherweise anders; sein Interesse am Behalten des Arbeitsplatzes oder die Vermeidung von Sanktionen seitens des Arbeitgebers oder finanzielle Anreize überwiegen.
Streikbruchprämien: Darf man das?
In vielen Ländern ist das Recht auf Streik ein grundlegendes Recht der Mitarbeitenden, das durch nationale Gesetze, internationale Arbeitsnormen und Gewerkschaftsvereinbarungen geschützt wird. Streiks dienen dazu, die Verhandlungsmacht der Mitarbeitenden gegenüber dem Arbeitgeber zu stärken. Ein Streik ist meist nur dann vermeidbar, wenn der Arbeitgeber den Forderungen der Gewerkschaft nachgibt. Dies ist selten im wirtschaftlichen Sinne eines Unternehmens. Um das Vorgehen der Gewerkschaften zu kontern, kann ein Arbeitgeber vor dem Beginn eines Streiks finanzielle Anreize für die Fortsetzung der Arbeit setzen. Die Rede ist von einer sogenannten „echten“ Streikbruchprämie. Hierbei handelt es sich um eine zusätzliche und „freiwillige“ Leistung des Arbeitgebers, die er vor Streikbeginn oder währenddessen allen Arbeitnehmern zusagt, die ihr individuelles Recht zur Teilnahme am Streik nicht ausüben und stattdessen zur Arbeit erscheinen, obgleich ihre Schicht vom Streik betroffen ist.
Die Gesetzgebung variiert je nach Land und reicht von der Anerkennung des Streikrechts, wie beispielsweise in Frankreich, bis hin zu Einschränkungen von Praktiken wie Streikbruchprämien, wie es der National Labor Relations Act in den Vereinigten Staaten vorsieht. Eine unmittelbare gesetzliche Regelung zum Thema Streikbruchprämien gibt es in Deutschland nicht. Die Frage der Zulässigkeit von Streikbruchprämien misst sich somit an der Einstufung als zulässiges Kampfmittel des Arbeitskampfes. Gerichte und Arbeitsbehörden müssen abwägen, ob die Gewährung von Streikbruchprämien die Grundsätze der Tarifautonomie, der kollektiven Verhandlungen und des fairen Arbeitskampfrechts verletzt. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass kein strukturelles Ungleichgewicht hergestellt würde und keine Tarifpartei der anderen am Verhandlungstisch den eigenen Willen aufzwingen kann. D. h. solange ein vom Arbeitgeber eingesetztes Kampfmittel im Arbeitskampf den Streik als zentrales Kampfmittel der Gewerkschaften nicht derart entwertet, dass ein solch strukturelles Ungleichgewicht angenommen werden kann, können finanzielle Motivationen zum Streikbruch durchaus als Kampfmittel des Arbeitgebers zugelassen werden. Für die Frage der Verhältnismäßigkeit spielen zudem weitere Faktoren - wie die Absicht des Arbeitgebers, die Auswirkungen auf den Streik und die Interessen der beteiligten Parteien - eine zu berücksichtigende Rolle.
Hierzulande ist die Auslobung einer „echten“ Streikbruchprämie zulässig, sofern weitere rechtliche Anforderungen erfüllt werden. Die hierzu entwickelte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) besteht schon länger. Nachdem das BAG zunächst von einer Neigung sprach, „die Gewährung einer sog. echten ‚Streikbruchprämie‘ während des Arbeitskampfs […] als grundsätzlich zulässiges Arbeitskampfmittel anzusehen“ (vgl. BAG, Urteil vom 13.07.1993 - 1 AZR 676/92), bestätigte es später seine Rechtsprechung, dass die „echte“ Streikbruchprämie „kein generell unzulässiges Kampfmittel“ sei (vgl. BAG, Urteil vom 14.08.2018 - 1 AZR 287/17). „Ein bestreikter Arbeitgeber ist grundsätzlich berechtigt, mittels Zahlung einer Streikbruchprämie einem Streikdruck zu begegnen“, so der Leitsatz der Entscheidung.
Für die Wirksamkeit einer „echten“ Streikbruchprämie wird vorausgesetzt, dass neben einem rechtmäßigen und tatsächlich stattfindenden Streik (Einhaltung der Tarifbezogenheit, Ende der Friedenspflicht, Verhältnismäßigkeit, Ankündigung) keine zu hohe Streikbruchprämie ausgelobt werden darf, um kein Ungleichgewicht zulasten der Gewerkschaft im Rahmen des Arbeitskampfes zu schaffen. Auch eine Differenzierung nach Gewerkschaftsmitgliedschaft ist aufgrund der verbotenen Maßregelung gemäß § 612a BGB unzulässig.
Finanzielle Anreize zum Streikbruch: Was gilt es zu beachten?
Die Auslobung einer „echten“ Streikbruchprämie, also einer im Voraus zugesagten Leistung für die Arbeitnehmer, die sich nicht an einem bevorstehenden Streik beteiligen, ist in Deutschland ein zulässiges und anerkanntes Mittel des Arbeitgebers im Arbeitskampf, sofern die Höhe der Prämie im Verhältnis zum üblichen Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer steht.
Komplexer wird die Rechtslage, wenn sich Arbeitgeber erst im Nachgang eines Streiks dazu entschließen, eine Prämie oder einen Bonus an die Arbeitnehmer zu zahlen, die nicht gestreikt und mithin ihre Arbeitspflicht vertragsgemäß erfüllt haben.
Zahlt der Arbeitgeber im Anschluss an einen Streik und ohne vorherige Auslobung eine Prämie an all diejenigen, die - unabhängig von ihrer individuellen Arbeitspflicht - nicht am Streik teilgenommen haben, spricht man von einer sogenannten Streikbrecherprämie. Mit Zahlung einer solchen Prämie benachteiligt der Arbeitgeber jedoch diejenigen Arbeitnehmer, die berechtigterweise von ihrem individuellen Recht auf Streikteilnahme Gebrauch gemacht haben. Anders als bei der „echten“ Streikbruchprämie fehlt es für die Arbeitnehmer an einer Wahlfreiheit zwischen Streikteilnahme und Streikbruch mit Aussicht auf Prämienzahlung. Die Zielrichtung einer solchen Prämie verstößt gegen das Maßregelungsverbot i.S.d. § 612a BGB, sodass die Auslobung einer nachträglichen Prämie, die allein an die Streikteilnahme anknüpft, unzulässig ist. Die Differenzierung zwischen einer zulässigen „echten“ Streikbruchprämie und einer unzulässigen Streikbrecherprämie bemisst sich mithin insbesondere am Zeitpunkt der Auslobung.
Dennoch ist der Arbeitgeber nicht darauf beschränkt, Streikbruchprämien stets vor oder während eines Streiks ausloben zu müssen. Sollte der Arbeitgeber nicht tarifgebunden sein, ist es wiederum möglich, denjenigen Arbeitnehmern einen Bonus oder eine Zulage zu zahlen, die ihre Arbeit während eines Streiks antraten und sich aufgrund des Streiks sowie abwesender streikender Kollegen mit besonderen Erschwernissen und Mehrbelastungen bei ihrer Arbeit konfrontiert sahen. Wesentliche Voraussetzung ist insoweit, dass anhand sachlicher Gründe auch eine tatsächliche Mehrbelastung/Erschwernis vom Arbeitgeber für jeden begünstigten Arbeitnehmer dargelegt werden kann und eine Arbeitsverpflichtung der begünstigten Arbeitnehmer zu den vom Streik betroffenen Zeiten bzw. Schichten bestand. Besteht in den betroffenen Betrieben ein Betriebsrat, ist dessen Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die betriebliche Lohngestaltung, Entlohnungsgrundsätze sowie leistungsbezogene Entgelte selbstredend ebenso zu beachten. Eine Geltendmachung der streikenden Arbeitnehmer aufgrund des allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes oder verbotener Maßregelung scheidet hierbei in der Regel aus, da mit einer solchen Lösung nicht der Streikbruch als solches belohnt wird, wenn die Prämienvereinbarung in ihrer Ausgestaltung den Anforderungen gerecht wird.
Fazit
Insgesamt bleibt die Frage der Streikbruchprämie oder anderer finanzieller Anreize zum Streikbruch eine komplexe Angelegenheit im Arbeitsrecht. Die rechtliche Bewertung im Einzelfall hängt zwar von einer Vielzahl von Faktoren ab und die endgültige Entscheidung liegt oft bei den Gerichten, dennoch kann der Arbeitgeber - bei richtiger und rechtskonformer Ausgestaltung - seinen finanziellen Vorteil nutzen, um tatsächliche wie auch drohende Auswirkungen eines Streiks zu minimieren.
Unsere Experten im Bereich Arbeitsrecht helfen Ihnen bei den rechtlichen Aspekten zum Umgang mit Streikmaßnahmen oder Streikbruchprämien in Ihren Betrieben gern weiter!