Mit dem langwierigen Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL ist der Begriff ‚Streik‘ wieder in aller Munde. Stillstehende Maschinen, eingeschränkte Produktionsabläufe und gestörte Lieferketten können schnell zu wirtschaftlichen Verlusten führen. Unternehmen haben ein großes Interesse, die Auswirkungen eines Streiks so gering wie möglich zu halten oder zu minimieren. Ein Mittel der Gegenwehr im Arbeitskampf ist die Streikbruchprämie.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung - Was gilt für Arbeitgeber?
Donnerstag, 16. März 2023
In seiner Entscheidung vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) urteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG): „Arbeitgeber sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht“ eine „abweichende Regelung getroffen hat.“
Der zugrundeliegende Rechtsstreit betraf die Frage, ob dem antragstellenden Betriebsrat im Rahmen seiner betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsrechte ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zustehe. Ein zwingendes Mitbestimmungsrecht in sozialen Angelegenheiten und damit ein Initiativrecht im Sinne von § 87 Abs. 1 BetrVG wäre nur dann begründet, wenn es keine gesetzliche oder tarifliche Regelung gäbe. Der Arbeitgeber sei aber schon aufgrund einer gesetzlichen Regelung verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen. Das BAG verneinte im entschiedenen Fall ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung, weil es im Arbeitsschutzgesetz eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit entdeckte.
Wie kam es dazu?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ging schon im Jahre 2019 in dem sogenannten „Stechuhrurteil“ (Urteil vom 14.05.2019, Az.: C-55/18) voran. Der Schutz der Arbeitnehmer sowie die EU-Arbeitszeit-Richtlinie (2003/88/EG) wie auch die EU-Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie (98/391/EWG) erfordern es, dass Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglich effektiv geleisteten Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer einzurichten haben. Eine unmittelbare Wirkung des EuGH-Urteils und der von ihm zitierten Vorschriften schied zwar aus. In Deutschland wartete man deshalb seitdem darauf, dass der nationale Gesetzgeber die Vorgaben der EU-Arbeitszeit-Richtlinie unter Berücksichtigung der Ausführungen des EuGH umsetzen werde. Eine umfassende und branchenunabhängige Pflicht zur Arbeitszeiterfassung regelte der deutsche Gesetzgeber jedoch bislang nicht.
Nun überholt die Rechtsprechung den Gesetzgeber schwungvoll. Das BAG zeigte in seiner Entscheidung auf, dass, anders als bislang angenommen, eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung im deutschen Recht bereits existiere. Die Regelung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verlange bei unionsrechtskonformer Auslegung, dass der Arbeitgeber für eine geeignete Organisation des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer zu sorgen habe und die hierfür erforderlichen Mittel bereitstellen müsse. Die Einführung eines Systems zur umfassenden Arbeitszeiterfassung diene der Umsetzung dieser Grundpflichten des Arbeitgebers.
Welche Auswirkungen hat die Entscheidung des BAG?
Die Feststellungen des BAG zur Pflicht der Arbeitgeber, ein Zeiterfassungssystem einzurichten, gelten unmittelbar; eine Übergangsfrist gibt es nicht. Jeder Arbeitgeber ist aktuell verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit seiner Arbeitnehmer inklusive der Überstunden zu erfassen und aufzuzeichnen, um die Lage der täglichen Arbeitszeit sowie die Einhaltung der täglichen bzw. wöchentlichen Höchstarbeitszeiten überprüfen zu können. Die Umsetzung dieser Pflicht kann auf die Arbeitnehmer delegiert werden. Es reicht aber nicht, ein solches System bloß zur Verfügung zu stellen; die Arbeitgeber müssen die Nutzung des Systems anweisen und die Einhaltung dieser Anweisung zumindest stichprobenartig prüfen.
Dennoch sind die Arbeitgeber nicht gezwungen, übereilt elektronische und möglicherweise nicht auf die betrieblichen Bedürfnisse abgestimmte Zeiterfassungssysteme zu implementieren, denn die Ausgestaltung eines solchen Systems steht den Arbeitgebern grundsätzlich frei. Jedenfalls solange der deutsche Gesetzgeber keine anderen Vorgaben trifft, haben Arbeitgeber lediglich die seinerzeit vom EuGH festgelegten Anforderungen - Objektivität, Zuverlässigkeit und Zugänglichkeit - an ein solches System zu beachten. Die Mitbestimmung ist bei der Zeiterfassung in Betrieben mit einem Betriebsrat selbstredend ebenso beachtlich.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat in seinen FAQs zur Arbeitszeiterfassung im Dezember 2022 verkündet, dass man „einen praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz machen“ werde. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass die Ausgestaltung eines Arbeitszeiterfassungssystems konkretisiert und möglicherweise auch eingeschränkt wird. Arbeitgeber sollten daher, in Anbetracht einer zu erwartenden gesetzlichen Konkretisierung, bei der Auswahl eines Zeiterfassungssystems und beim Abschluss einer mit dem Betriebsrat getroffenen Vereinbarung berücksichtigen, dass Anpassungen aufgrund gesetzlicher Vorgaben notwendig werden könnten.
Es bleibt zu hoffen, dass die richterlichen Vorgaben vom Gesetzgeber reflektiert umgesetzt werden und der von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG weit geöffnete Gestaltungsspielraum erhalten bleibt und branchenspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden.
Unsere Arbeitsrechtsexperten helfen Ihnen bei den rechtlichen Aspekten der Arbeitszeiterfassung in Ihrem Unternehmen gern weiter!